Feed on
Posts
Comments

[für die „Gesunde Stadt“ 04/2006]

Fragt man junge Eltern nach ihrem sehnlichsten Wunsch, so fällt die Antwort meist eindeutig aus: „Mehr Schlaf!“

Kein Wunder also, dass Gespräche bald nur noch um das eine kreisen: Einschlafen, Durchschlafen, Schlafrhythmus und der geeignete Schlafplatz des Babys werden zur fixen Idee. Aber woran liegt es, dass Kind und Eltern hier oft, wie man meinen könnte, konträr gepolt sind? Warum macht ein Baby so manche Nacht zum Tag während seine Eltern vor Müdigkeit nicht mehr stehen können? Nun, ganz einfach: Babys schlafen anders.

Aber um das zu verstehen, fangen wir am besten ganz von vorne an…

Der Mensch ist eine physiologische Frühgeburt. Unser Gehirn ist noch nicht ausgereift, wenn wir auf die Welt kommen – es braucht danach gut zwei Jahre, um sich vollständig zu entwickeln. Wir sind die einzige Spezies, bei der das so ist, und man geht heute davon aus, dass darin auch das Geheimnis unserer sozialen Kompetenz liegt. Wir werden zu sozialen Wesen, weil sich unser Gehirn durch das soziale Umfeld formt. In den ersten beiden Lebensjahren bilden sich jene Nervenbahnen und Neuronen, die unser ganzes Leben prägen. Diese werden auf Grund bestimmter Reize entwickelt, die Kinder von ihrer Umwelt erfahren. Ein Neugeborenes, das den größten Teil des Tages schlafend verbringt, ist jedoch auf einen hohen Anteil an Autostimulation angewiesen, um die Gehirnentwicklung voranzutreiben. Diese Autostimulation holt es sich im Schlaf – genauer gesagt im REM-Schlaf, dem aktiven Teil unserer Schlafphasen. Vergleicht man den Anteil an REM-Schlaf eines (heranwachsenden) Babys mit dem eines Erwachsenen, wird der Unterschied klar: Je jünger, desto mehr REM-, desto weniger Tiefschlaf. In seinem Buch „Schlafen und Wachen“ fasst der amerikanische Kinderarzt Dr. Sears zusammen: „Beim Fötus im Frühstadium beträgt der REM-Schlaf nahezu 100 Prozent, beim ausgetragenen Fötus etwa 50 Prozent, bei Zweijährigen 25 Prozent, bei Jugedlichen und Erwachsenen 20 Prozent, bei älteren Personen 15 Prozent.“

Der Unterschied zwischen Baby-Schlaf und Erwachsenen-Schlaf geht aber darüber hinaus: Nicht nur die REM- und Tiefschlafphasen sind anders verteilt. Auch im Übergang zwischen den einzelnen Schlafphasen ist das Baby noch nicht so geübt. Es braucht dafür einfach etwas länger. Hält man sich nun vor Augen, dass der REM-Schlaf ein eher leichter Schlaf ist und die Übergangsphasen (auch beim Erwachsenen) die anfälligste Zeit fürs Aufwachen durch Störungen sind, muss man sich schon fast wundern, dass Babys überhaupt schlafen. Dazu kommt, dass ein Erwachsener seinen Schlaf mit einer Tiefschlafphase beginnt und erst später in den REM-Zustand eintritt. Ein Baby jedoch beginnt mit einer REM-Phase und wechselt oft erst nach 20 Minuten (!) in den Tiefschlaf. Das ist auch der Grund dafür, warum Babys, die im Kinderwagen oder in Papas Arm eingeschlafen sind, oft aufwachen, wenn man versucht, sie in ihr Bettchen zu legen. Was also wie ein ausgefuchstes System anmutet, mit dem einzigen Zweck, die Eltern in den Wahnsinn zu treiben, ist in Wahrheit ein ausgefuchstes System zur Entwicklung des menschlichen Gehirns. Überspitzt ausgedrückt: Babys, die nachts nur einen leichten Schlaf haben und oft aufwachen, tun mit großer Wahrscheinlichkeit gerade etwas dafür, um zu wachsen und zu reifen. Durchaus erstrebenswert – aber die Freude der betroffenen Eltern ist meist endenwollend. Wenn Babys älter werden, erwerben sie sogenannte „Schlafreife“, d.h. sie lernen leicht einzuschlafen und dann die Nacht durchzuschlafen. Wann das eintritt, ist jedoch von Kind zu Kind verschieden.

„Aber früher haben die Kinder auch durchgeschlafen! Wieso ist das plötzlich so ein Problem?“, hört man oft von der Großelterngeneration. In der Tat scheinen Schlafstörungen in den letzten Jahren zugenommen zu haben. Das liegt daran, dass Babys heute von Geburt an wesentlich mehr Reizen ausgesetzt sind, die sie im Schlaf erst einmal verarbeiten müssen. Eine weitere Ursache ist aber auch, dass das Bewusstsein für den Umgang mit Babyschlaf ein anderes geworden ist. So meint auch Dr. Kruppa von der Baby-Care-Ambulanz (siehe Seite X): „Man kann natürlich, wie früher oft, die Kinderzimmertüre zumachen, einfach nichts hören und die Kinder nur alle vier Stunden füttern – das überleben sie auch. Zu welchem Preis ist die Frage.“

In der Tat greifen übermüdete Eltern immer wieder zu dieser Strategie – als scheinbar letzter Ausweg aus der Schlafmisere. Einige Bücher zum Thema und „Schlaflern“-Methoden unterstützen das auch. Das berühmteste ist wohl „Jedes Kind kann schlafen lernen“ von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth. Darin wird die sogenannte Ferber-Methode vorgestellt. Im Kern geht es darum, dass der Schlüssel zum Durchschlafen das Allein-Einschlafen ist. Wirklich durchschlafen tut niemand. Auch Erwachsene nicht. Aber ein Erwachsener, der in der Nacht aufwacht, dreht sich um und schläft weiter. Ein Baby hingegen schreit. Warum? Nun, wer nur mit Mamas Hand einschläft, braucht auch bei jedem nächtlichen Aufwachen wieder Mamas Hand zum Weiterschlafen. Wer aber lernt, mit dem Zottelbären in der einen und einem Gitterbettstab in der anderen Hand einzuschlafen, kann dieses Kunststück auch bei nächtlichen Unterbrechungen schaffen. Die Ferber-Methode konzentriert sich daher auf das Allein-Einschlafen-Lernen:

Nach dem Zubettbringen, verlassen die Eltern das Zimmer. Schreit das Kind, kommen sie nach 30 Sekunden wieder zurück, beruhigen es kurz und gehen danach wieder hinaus. Schreit es erneut, kommen sie erst nach 5 Minuten zurück. Danach nach 10, nach 15, nach 20 usw. Die Abstände erhöhen sich immer um 5 Minuten. Nach einigen Tagen gibt das Kind auf und schläft alleine ein. Die Methode ist anfänglich anstrengend, aber sie funktioniert nahezu ausnahmslos. Sie wird häufig angewandt, wovon nicht zuletzt die Auflagenzahlen des Bestsellers zeugen. Und „geferberte“ Kinder schlafen tatsächlich durch. Man wird allerdings leicht stutzig, wenn man das Buch in einer Wiener Bibliothek ausleihen will. Da findet sich nämlich auf der ersten Seite ein eingeklebter Zettel: „Dieses Buch wird von Wiener KinderärztInnen und PsychologInnen nicht empfohlen“. Und auch der amerikanische Kinderarzt Dr. Richard Ferber hat sich in einem Interview inzwischen von der nach ihm benannten Methode distanziert: „Ich wünschte, ich hätte nie diese Sätze geschrieben.“

Was also spricht gegen die Erfolgstaktik?

Kehren wir zum Anfang zurück: In den ersten beiden Lebensjahren werden die allerhöchsten neurologischen Funktionen ausgebildet. Oder auch nicht. Darin liegt der Knackpunkt. Denn die Neuronen entstehen nur auf Grund dessen, was gefördert wird. Wer ein Kind allein in seinem Zimmer schreien lässt, fördert das Muster „Wenn ich ein Problem habe, dann wird nicht darauf eingegangen. Ich brauche mein Problem nicht zu kommunizieren, weil ich bekomme keine Antwort.“ In Folge verkümmert die zuständige Nervenbahn. An ihrer Stelle werden niedrigere Nervenbahnen ausgebildet. Neurologisch gesehen, hinken solche Kinder also hinterher.

Es ist richtig: Jedes Kind KANN schlafen lernen. Und das wird es früher oder später auch tun. Eine gewaltsame Beschleunigung dieser Entwicklung, oft lange bevor das Kind bereit dafür ist, diesen Schritt zu tun, ist nicht empfehlenswert. Was also bleibt den erschöpften Eltern? Nur die Besinnung auf Altbewährtes: keine aufregenden Spiele mehr am Abend, ein gleichbleibendes Gute-Nacht-Ritual, eindeutige Signale, dass es sich jetzt nicht um ein kurzes Nickerchen, sondern um den Nachtschlaf handelt (also Schlafsack, Pyjama, Gute-Nacht-Lied) – und letztlich die Gewissheit, dass die Zeit der erholsamen Nächte irgendwann einmal wiederkommen wird…

Leave a Reply

Transparenzgesetz.at Info-Logo