Am 13. September hatte ich das Vergnügen und die Ehre, Stephen Sondheim für den KURIER zu interviewen. Ja, es ist lang geworden – aber wenn man schon mal so eine Gelegenheit hat, dann muss man’s ja wohl auch am eigenen Blog publizieren. Keine Angst, die emotionalen Passagen, wo ich als lebenslanges Fangirl (vulgo „Sondhead“) den Großmeister zitternd angeschmachtet hab, hab ich eh alle rauseditiert… ;-)
Seit den Tonaufnahmen zur Verfilmung von „A Little Night Music“ (1977) war Stephen Sondheim nicht mehr in Wien. Umso mehr freut sich der Librettist und Komponist auf die Volksopern-Premiere seines Werkes „Sweeney Todd“. Wenn sich Samstag der Vorhang über der schaurigen Kulisse der Londoner Fleet Street am Wiener Gürtel hebt, wird Sondheim dabei sein. Der KURIER traf den Giganten des US-Musiktheaters.
KURIER: Das letzte Sondheim-Musical, das an der Volksoper gespielt wurde, war „Die spinnen, die Römer“, eine turbulente Farce und ein völliges Kontrastprogramm zu „Sweeney Todd“. Wie kann es sein, dass ein und derselbe Mann diese beiden Stücke verfasst hat?
Sondheim: Ich wiederhole mich nicht gerne. Ich versuche, bei jedem Stück Neues zu machen, damit mir nicht langweilig wird. Und das Buch zu „Sweeney“ hat definitiv wie nichts anderes ausgesehen, an das ich mich je heran gewagt hatte. Ich hatte schreckliche Angst davor.
Hatten Sie Angst, dass Sie es nicht schaffen?
Es gibt einen Unterschied zwischen dem Gedanken „Das kann ich nie“ und dem Wissen: „Ich kann das, aber es macht mir Angst.“ Ich glaube, es ist sogar wichtig, in einem Kreativprozess Angst zu verspüren. Denn das bedeutet, dass man sich auf neues Terrain wagt.
Sie gelten als Meister geschliffener Formulierungen und raffinierter Reime. Wie sehr werden Sie unter der deutschen Übersetzung leiden?
Gar nicht. Ich liebe die deutsche Sprache. Ihr Klang passt gut zu diesem Stück. „Sweeney“ ist ja kein zorniges Werk, aber eines von starker Entschlossenheit – etwas, das für mich in der deutschen Sprache essenziell mitschwingt. Allerdings bin ich neugierig, wie all die Silben auf meine Noten passen. Eure Wörter sind ja viel länger als die englischen Gegenstücke.
Lassen Sie sich Übersetzungen zur Kontrolle rückübersetzen?
Das hab ich nur einmal gemacht. Bei einer finnischen Produktion. Aber eine gute Übersetzung orientiert sich ohnedies an der jeweiligen Essenz eines Songs, nicht an oberflächlichen Details.
Wohin bewegt sich das Musical heutzutage?
Ich nehme niemals eine Vogelperspektive ein. Außerdem lässt sich das nicht so linear beantworten. Es bewegt sich in viele Richtungen, das macht es ja so interessant.
Aber es wird viel über eine Krise des Broadways gesprochen. Empfinden Sie das auch so?
In Wirklichkeit herrscht am Broadway schon immer Krise – zumindest hat er seit der Ankunft des Fernsehens längst nicht die Bedeutung, die er davor hatte. Musicals waren eine der wichtigsten Formen der Unterhaltung. Das sind sie heute nicht mehr.
Die großen Tage des amerikanischen Musiktheaters sind vorbei?
Ich wüßte gar nicht, dass es jemals große Tage des amerikanischen Musiktheaters gegeben hat… Wann soll das gewesen sein?
Gibt es noch richtig erfolgreiche Shows?
Es gibt Shows, die sehr erfolgreich sind und deshalb schon ewig laufen. Das halte ich aber eher für problematisch: Diese Stücke besetzen die Theater zu lange, somit gibt es nicht genug Bühnen für frische, junge Arbeiten.
Apropos junge Arbeiten: Sie waren ein Mentor für Jonathan Larson. Gibt es andere junge Künstler, die Sie schätzen?
Ja, ganz viele. Es gibt aktuell ein wirklich großes Pool an Talenten. Adam Guettel wäre der erste, der mir einfällt. Oder das Composer/Lyricist-Duo Tom Kitt und Brian Yorkey. Auch Michael John LaChiusa, Jason Robert Brown…
Gibt es irgendeinen Stoff, den Sie sich nicht als Musical vorstellen könnten? Sie haben beispielsweise die Ermordung von Kennedy vertont [„Assassins“, 1990 – Anm.] – würden Sie ein 9/11-Musical machen?
Das sehe ich eher als Material für einen Film. Aber ich glaube nicht, dass es irgendeinen Stoff gibt, der sich nicht für Musicals eignet. Ein guter Dramatiker kann ja auch jeden Stoff in ein Theaterstück verwandeln. Man muss nur einen Weg finden, ihn in die Sprache des Theaters zu übersetzen. Ich beginne aber nie mit einer Idee, immer mit einer konkreten Geschichte. Klar gibt es Leute, die von einer Idee ausgehen, etwa „Ich will ein Musical über Terrorismus scheiben“. Das mache ich nicht. Ich beginne mit einem Charakter oder einem Handlungsfaden.
Lieber Adaptierungen oder Originalbücher?
Da hab ich keinerlei Präferenzen. Eine Adaptierung ist spannend, wenn sie über das Ausgangsmaterial hinausgeht oder es für etwas ganz anderes nutzt, z.B. “Carousel” von Oscar Hammerstein, das auf Molnars Liliom basiert. Da ist mit der identen Story ein komplett anderes Stück entstanden. Als sich Ingmar Bergman “A Little Night Music” angeschaut hat, dem sein Film „Das Lächeln einer Sommernacht“ zugrundeliegt, hat er gesagt: “Deine Show und mein Film haben überhaupt nichts miteinander zu tun – mit Ausnahme der selben Handlung.”
Mir gefällt ihre Version viel besser…
Wirklich? Oh, ich liebe diesen Film!
Ihr berühmtestes Lied – „Send In The Clowns“ – stammt auch aus „A Little Night Music“. Ein Kollege würde gerne wissen: Wer sind die Clowns heute?
Die sitzen alle in Washington und machen unser Land kaputt.
Sie liefern mir ein gutes Stichwort. Wenn Sie an die Occupy-Wallstreet-Bewegung denken, daran, dass 1% der Amerikaner 38% des Vermögens besitzen, während die berühmten 99% oft nicht einml eine Krankenversicherung haben… Denken Sie, dass „Sweeney Todd“ heute eine größere Relevanz und Aktualität hat, als zur Entstehungszeit?
Relevanz ist ein Wort, das ich nie verwende. Zumindest nicht in diesem Zusammenhang. Relevant sind für mich die Charaktere und die Geschichte, nicht das Thema eines Stückes.
Aber ihr Kollaborationspartner Hal Prince meinte einmal, „Sweeney Todd“ wäre ein Stück über die Ohnmacht in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft…
Ja, das ist, was Hal Prince glaubt. Ich sage das nicht. Für Hal ist es wichtig, dass es um etwas geht, aber es geht um nichts. „Sweeney Todd“ ist eine wunderschöne Geschichte und ich wollte den Zuschauern richtig Angst einjagen. Ich bin ein großer Fan von Horrorfilmen. Das Stück soll keine politische Aussage transportieren. Hal interpretiert Stücke gerne politisch, meine Absicht war das nicht.
Es geht aber doch um etwas. Sie haben gesagt, es wäre ein Stück über Besessenheit.
Ja, das ist es. Aber Besessenheit ist ein Charaktermerkmal. Keine abstrakte Idee.
Sie haben also gemeinsam mit Hal Prince eine Show auf die Bühne gebracht – aber in Wahrheit jeweils eine andere?
Wir haben das Stück ja nicht gemeinsam geschrieben. Er musste mit dem Material arbeiten, das ich ihm gegeben habe. Ein Regisseur ist Interpret, nicht Schöpfer eines Werkes. Wie er es dann interpretiert, ist seine Sache. Man darf Regisseure nie zu sehr am Buch mitwirken lassen.
Wieviel von „George“ steckt in Stephen Sondheim?
Nicht sonderlich viel. James Lapine und ich waren fasziniert von dem Seurat-Gemälde „Un Dimanche d’été à L’Ile de la Grande Jatte“ – und von all den Figuren in diesem Gemälde, davon, was sich zwischen ihnen abspielt oder eben nicht abspielt, denn sie schauen einander nicht an. Keiner der Porträtierten hat Blickkontakt zu irgendeiner anderen Figur auf dem Bild.
“Weil die zentrale Person fehlt”, meinte Lapine. “Wer denn?”, fragte ich – und darauf Lapine: “Der Maler.”
Aus dieser Situation heraus, ist das Werk entstanden. Es handelt von der Beziehung eines Künstlers zu der Welt, die er erschafft und in der er sich bewegt.
Ja, ich bin Künstler. Also natürlich gibt es da Parallelen. Aber keine besonderen Spezifika. “Finishing the hat” ist für mich ein persönliches Lied, aber ich glaube, “Finishing the hat” ist für jeden nachvollziehbar, der jemals ein kreatives Werk geschaffen hat.
Sie haben einmal Benjamin Britten als großen musikalischen Einfluss genannt. Warum?
Ich liebe seine Musik. Wenn ich eine Partitur schreibe, kommt es oft vor, dass ich die Einflüsse anderer Komponisten heraushöre. Es gibt einige Lieder in „Sunday In The Park With George“, bei denen ich mir nachträglich denke „Jö, das klingt wie Benjamin Britten“. Aber zum Zeitpunkt des Schreibens war das keine bewusste Entscheidung.
Welche anderen Künstler haben Sie musikalisch beeinflusst?
Am meisten sicherlich Ravel. Und Harold Arlen.
Welche Musik hören Sie privat?
Alle Arten von klassischer Musik. Ich entdecke gerne Musik, die ich noch nicht kenne. Ich habe ein Abonnement bei “Records International”, die importieren Musik aus der ganzen Welt – von Finnland bis Südamerika. Klassische Konzertmusik, die man sonst nie zu hören bekommen würde… Das finde ich hoch spannend.
Das beste Musical, das je geschrieben wurde?
„Porgy und Bess“. Zuerst kommt „Porgy und Bess“ und dann kommt lange nichts.
Haben Sie ein Lieblings-Sondheim-Musical?
Nein. Ich mag jedes aus anderen Gründen. Aber ich bin schon oft gefragt worden, welches meiner Musicals ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde und das wäre “A Funny Thing Happened On TheWay To The Forum”. Das ist immer lustig, ich schau mir das immer wieder gern an.
Gibt es ein Werk, das Sie bereuen?
Aber ja! Ich habe mit Richard Rodgers ein Musical geschrieben namens “Do I Hear A Waltz?” – Das Stück war zwar ganz okay, aber ein bisschen unnötig. Ich hatte das Gefühl, ich hab meine Zeit verschwendet.
Woran arbeiten Sie gerade?
Donnerstag hat in London die Verfilmung von „Into the Woods“ begonnen. Mit Meryl Streep als Hexe und Johnny Depp als bösem Wolf. Regie führt Rob Marshall, der auch „Chicago“ von Kander und Ebb verfilmt hat.
Um bei Ihrer Metapher zu bleiben: Is there a hat you still need to finish?
Ja. Ich habe ein neues Stück begonnen. Aber Thema und Titel werden noch nicht verraten.