Wer fürchtet, das Netz wäre Anarchie pur, findet Trost in der deutschen Wikipedia. Dort herrscht noch Zucht und Ordnung. So wahr wir alle Kanninchen sind! (Kolumne, erschienen im WIENER 354)
Haben Sie 10 Jahre Wikipedia gebührend gefeiert? Recht so, denn wenn das kein Grund zum feiern ist, dann weiß ich auch nicht. Hand aufs Herz: Können Sie sich ein Leben ohne Wikipedia vorstellen? Ich nicht. Bei mir stehen zwar noch 25 in Leder gebundene Folianten der Enzyklopedia Britannica im Regal, aber auch nur, weil man darin gut Kleeblattfunde pressen kann. Nachschlagbares Wissen hol ich mir von Jimmy “Jimbo” Wales. Schon deshalb, weil mir da nicht so viele Kleeblätter entgegenfallen.
Bei all den Feierlichkeiten sollte jedoch nicht übersehen werden, dass uns heuer noch ein anderes, zugegeben kleineres, Jubiläum ins Haus steht: 10 Jahre deutsche Wikipedia. Sie meinen, das wäre das selbe und man könnte es in einem Aufwasch abfeiern? Ride into the Dangerzone, Baby!
Böse Zungen behaupten ja, das „de“ in de.wikipedia.org stünde für „deprecated“ und man sollte prinzipiell nur in der “enhanced” („en“) Version nachschauen. Nur die Deutschen meinen immer noch, es stünde für „deluxe“. Dabei kann man den Unterschied zählen: 3 Millionen Artikel finden sich in der “Original Wiki”, in der deutschen sind es 1,2 Millionen. Nicht weil deutsche Wikipedianer schreibfaul wären. Geschrieben wird genug, aber gelöscht noch wesentlich mehr. Denn hier herrscht ein strenges Regement und für jeden, der die Relevanzkriterien der germanischen Löschmafia nicht erfüllt, heisst’s Tschüss mit Ü!
Wikipedia selbst illustriert die Relevanzhürde mit einem hürdenspringenden Hauskaninchen. Kein Schmäh. Bildunterschrift: “Für über 99,9 % der Bevölkerung unüberwindbar.” Dabei ist das Wiki-System per se ein kulantes: Als “unnötig” eingestufte Einträge könnten auch schlicht umgeleitet (“redirect”) oder mit anderen Themen zusammengeführt (“merged”) werden. Die Praxis zeigt aber, dass Löschen mit 68 Prozent der häufigste Urteilsspruch ist, während “merge” und “redirect” mit etwa 4 und 2 Prozent stark unterrepräsentiert sind. Es geht also ums nackte Überleben, was uns zum Thema Fleischlaberl führt.
In meiner Küche höchst relevant, auf Wikipedia bei Ersteintrag heiß umfehdet, wild umstritten. Denn im Hoheitsgebiet der Frikadelle, gelten Fleischlaberln als Löschkandidaten. Zwar gibt es die Kulanten (“Lass den Ösis doch ihr Fleischlaberl!”) und die Diplomatischen (“Schlage vor, sowohl das österreichische „Fleischlaberl“ als auch die preußische „Frikadelle“ auf das bayerische „Fleischpflanzerl“ zu redirekten”), aber die Diskussion zeigt klar, wie eng Relevanz und Kulturimperialismus zusammenhängen: “Für korrektes Einarbeiten in Frikadelle und einen Redirect. Hackbratlinge aller Länder vereinigt euch!” – “Äusserst schwieriger Fall! Eine Einarbeitung unter den Begriff Frikadelle erscheint sogar mir als Europäer ganz und gar unmöglich!” – “Wer definiert denn, dass Fleischlaberl eine Unterart der Frikadelle ist? Vielmehr ist die Frikadelle eine deutsche Abart des Fleischlaberls!” Da capo al fine. Wie eine IP so treffend schrieb: Gott schütze Österreich vor Wikipedia! Happy Birthday, ein Cevapcici auf ihr Wohl!
Dank gilt an dieser Stelle @astera, deren Tweet mich auf die Frikadellen Fleischlaberln aufmerksam gemacht hat, ist zwar schon länger her, mir aber seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen…
Meins! Meins! Meins!