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Die große Krise folgt der großen Freiheit auf den Fuß: Die digitale Bohème sitzt in der Sozial-Falle. „Raus aus den Bademänteln!“ befehlen Karin Ruthardt und Yves Schulz – und zeigen im WIENER ihren Gegenentwurf. [Erschienen im WIENER 349 / September 2010]

Am Anfang sieht alles so rosarot aus wie Omas Plüschschlapfen, in denen man fortan seine Arbeit verrichten möchte. Adé Festanstellung – willkommen in der Ich-AG! Neue Selbstständigkeit, das bedeutet freie Zeiteinteilung, keine nervigen Machtspielchen zwischen Kollegen und arbeiten in der Unterhose. Oder auch ohne, wenn’s mal heiß ist.

Statt Filterkaffee in der grauslichen Betriebskantine gibt’s Latte Macciato im Schanigarten der Wahl. Man hat ja ein Notebook, ist flexibel und endlich ungebunden. Von „digitaler Bohème“ spricht das Feuilleton gerne oder nicht minder romantisierend von „digitalen Nomaden“, von der großen Freiheit Nummer 2.0: Nicht ich bin dort, wo die Arbeit ist, sondern die Arbeit ist, wo ich bin. Kurz: Genuss pur – jedoch selten länger als zwei Wochen…

Denn mit der fehlenden Außen-Struktur eines Unternehmens wird meist unbemerkt auch die eigene, die innere Strukturiertheit in die Tonne getreten. Plötzlich ist nichts so wichtig wie Staubsaugen. Danach gehören die Bleistifte gespitzt und fein säuberlich nach Härtegrad sortiert. Auch die Zimmerpflanzen wurden schon ewig nicht mehr umgetopft. Adé Festanstellung – willkommen Erledigungsblockade und Aufschieberitis!

„Das ist aber längst nicht das einzige Problem“, meint Yves Schulz, neuerdings selbstständig, „Die Leute werden tatsächlich wunderlich. Wer Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer in einem benutzt, geht irgendwann gar nicht mehr auf die Straße, trifft keine anderen Menschen. Der soziale Austausch geht verloren.“ Keine Kollegen, keine Nestwärme. Der Mensch, von Natur aus als soziales Wesen angelegt und – weitaus mehr als andere Säugetiere – ohne seinen Sozius gar nicht lebensfähig, steckt in der Klemme. Luxusproblem? Mitnichten.

„Weniger als zwei Drittel aller Erwerbstätigen in Deutschland haben noch einen Normaljob, der voll sozialversicherungspflichtig und unbefristet ist“, verlautete erst kürzlich der SPIEGEL. Auch in Österreich muss man nicht erst Studien in Auftrag geben, um zu sehen, dass sich der Arbeitsmarkt im Umbruch befindet, dass Beschäftigungsverhältnisse heute in der Regel kürzer, flexibler und unsicherer angelegt sind als noch vor 20 Jahren. Die Zahl der Soloselbständigen wächst. „Working 9 to 5” – dereinst von Dolly Parton besungen und zum Gräuel erklärt – ist für viele Erwerbstätige gar keine Option. In jeder Form von Kreativindustrie zum Beispiel ist die Festanstellung rar, Freelancing die Norm.

Gesucht wird also wieder einmal die eierlegende Wollmilchsau unter den Arbeitsverhältnissen. Am besten mit der Infrastruktur eines Konzerns, dem sozialen Netz einer Kollegenschaft und der Freiheit der neuen (digitalen) Selbstständigkeit. The best of both worlds. “Das gibt es”, sagt Yves Schulz, “Es heißt Coworking und ist eine Idee aus den USA. Derzeit auf Siegeszug in ganz Europa.“ Das Konzept ist leicht erklärt: In sogenannten „Coworking Spaces“ trifft man sich zum gemeinsamen Arbeiten – gemeinsam wohlgemerkt, aber nicht zusammen. Denn hierher kann es einen Webdesigner ebenso verschlagen, wie einen Anwalt. Oder einen Tennislehrer, der heute gerade seine Buchhaltung erledigen will. Coworking Spaces sind spartenübergreifend. Sie stellen die benötigte Infrastruktur – etwa WLAN, eine professionelle Druckerlandschaft und natürlich die obligate Kaffeeküche – zur Verfügung, überlassen das Weitere aber den Nutzern. Man mietet sich Tageskarten oder Zehnerblocks, gegebenenfalls ein Monatsticket, und entflieht der Solistenfalle.

„Das wäre genau das richtige für mich“, meint auch WIENER-Fotograf Marco Rossi bei der Besichtigung des Coworking Spaces „Sektor 5“, den Yves Schulz mit seiner Partnerin Karin Ruthardt gerade in Wien aufbaut, „Ich sitze den ganzen Tag zuhause vor dem Computer und starre oft tagelang die selbe Wand an.“

Man mag witzeln über die „Kommune der Schreibtisch-Solisten“ über die Bürokollegen, die es um durchschnittlich 19.- Euro pro Tag zu mieten gibt, tatsächlich aber schafft Coworking Synergien und Mehrwert. Denn Wertschöpfung – so das internationale Motto der Coworking Spaces – findet längst nicht mehr in klassischen Büros statt. Werte werden überall geschaffen, an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten. Und zusammen ist man einfach weniger allein.

„Natürlich kann man auch ins Kaffeehaus gehen, wenn man Menschen um sich haben will und die Geräuschkulisse sucht“, meint Schulz, „Aber konstruktiven Austausch findet man dadurch trotzdem nicht. Es gibt niemanden, den man fragen kann: Sag mal, was hältst du von dem Projekt?“ Zudem bietet „Sektor 5“ auch noch zusätzliche Services an, etwa die Kooperation mit einem mobilen Sekretariat und, auf Wunsch, mit einer Steuerberatungsfirma, die den freischaffenden Coworkern unter die Arme greift. Da Coworking Spaces weltweit wie die Schwammerln aus dem Boden schießen, ist auch eine Art internationales „Coworking Visum“ angedacht: Wer Mitglied im „Sektor 5“ wird, könnte mit dieser Mitgliedschaft jederzeit verwandte Räume in Berlin (www.betahaus.de), Lissabon, Melbourne oder Seattle aufsuchen und einen Arbeitstag dort verbringen.

Auch etablierte Firmen erkennen zunehmend das Potential des Systems. „Solange du in einem Konzern arbeitest, endet dein Arbeitshorizont an den Konzerngrenzen. Frischer Input dringt kaum zu dir durch“, so Ruthardt, „Daher gibt es die Idee, dass sich Firmen einen Fixplatz im Coworking Space reservieren und jeden Tag einen anderen Mitarbeiter hinschicken, der einfach mal raus muss oder einen kreativen Schubs braucht.“ Und dieser Schubs kommt wie das Amen im Gebet. Das zeigen internationale Erfolgsstorys von Firmen, die Dank Coworking Space gegründet wurden, von burn-out gefährdeten Investment-Bankern, die ihre Berufung als Kaffee-Importeure fanden…

Ob die österreichische Mentalität reif für das Konzept ist, wird sich ab Mitte September zeigen. Da eröffnen Schulz und Ruthardt ihren „Sektor 5“. Lümmelmöbeln, Kochlöffel und Engagement werden noch gesucht. Arbeitsplätze stehen zur Verfügung – aber beeilen Sie sich, es könnte ein G’riss drum geben!

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