Digitale Etikettierung lauert überall. Ich bin ein „Resident“ – was sind Sie? [Erschienen im WIENER 348 / August 2010]
In seinem berühmten Aufsatz „Wie wir denken werden” sprach der Computer-Pionier Vannevar Bush bereits 1945 von digitalen Trailblazern. Dem wohnt eine gewisse Abenteurerromantik inne: Eine Generation von Entdeckern, die auszieht um das letzte verbliebene Neuland zu erforschen, nachdem der Mensch bereits die ganze Welt kartographiert und entzaubert hat. Dieses Neuland, „the new frontier“, heißt Wissen und Erkenntnis. Den Begriff Trailblazer hat Bush dabei der Eroberung des amerikanischen Westens entlehnt. Heerscharen von Hackern bekommen feuchte Augen, wenn sie davon hören.
Nennt mich eine Ketzerin, aber für mich hat Bush damit genau eines getan: Er hat das erste Buzzword der Net Generation (auch eins!) geprägt. Das ist unverzeihlich.
Was ein Trailblazer ist, weiß heute fast keiner mehr. Aber wir ersticken im Buzzword- und Etikettierungsdschungel. Und es ist wirklich nicht immer leicht, ein etikettierter Digital Dingsbums zu sein. Vor allem dann nicht, wenn man sich wie ich in keiner der Kategorien so richtig heimisch fühlt.
Digital Native, also eine, deren Muttermilch bereits binär codiert war, bin ich ja nicht. Mein Geburtsjahr liegt deutlich vor dem Einzug des Computers in den medialen Alltag der Österreicher. Überhaupt: Wer über 25 ist, sollte keinen rosa Lippenstift tragen, seine Freunde nicht mit „Yo! Atze!“ begrüßen und mit der Eigendefinition als Digital Native vorsichtig umgehen. Wirkt sonst ein bissl lächerlich, da kann er (oder sie) noch so versiert „Plants vs. Zombies“ am iPad spielen: Er ist und bleibt – in der klassischen Definition – stets ein Digital Immigrant, also ein „Einwanderer“ in Cyberworld. Einer, dem die Sprache oft spröde, nie akzentfrei über die Lippen kommt und dessen Wetterfühligkeit sich meldet, wenn der virtuelle Himmel voller Clouds hängt. Kurz: Ein Fremder, der, das mag sein, halbwegs gut angepasst ist, dabei aber – um es mit dem österreichischen Verfassungsgerichtshof zu sagen – bloß „rechtswidrig integriert“ (Kotzkübel gefällig?).
Liegt eben in der Natur des Menschen, lustvoll dem Antagonismus zu frönen. Wo er uns nicht gleich ins G’sicht hupfen, helfen wir gerne nach und erschaffen ihn selber: Schwarz vs. Weiß. Printmedien vs. Online. Early Adopters vs. Never Adopters. Natives vs. Immigrants. Dagegen ist Plants vs. Zombies echt ein Ponyhof.
Es mag mein persönlicher Spleen sein, aber mir sind Antagonismen unsympathisch. Was, wenn man dazwischen fällt? Weder Pflanze, noch Zombie?
Das einzige, was an mir native ist, ist mein Olivenöl. Ansonsten ist dieser Zug ist angefahren. Als Immigrant fühl ich mich aber auch nicht! Gut, in einer Runde von Hackern, die ihren Kaffee in PHP bestellen, bin ich bestenfalls eine Mini-Jane-Goodall, schlechtestenfalls bloß störend. Dort lass ich mir jederzeit gerne „Immigrant“ auf die Stirn picken. Aber gegenüber dem Durchschnitt meiner Kohorte bin ich Cyberchick pur. Mein Digital-Dingsbums-Etikett sollte variabel gestaltet sein, kontextabhängig!
In diese Kerbe schlägt David White, E-Learning Developer in Oxford, der nicht Geburtsjahr, sondern Engagement als Differenzmerkmal betrachtet. Anstelle von Natives und Immigrants spricht er von „Digital Residents“ und „Digital Visitors“. Ersterer sieht das Netz als (Lebens-)Raum, letzterer hingegen als eine Ansammlung von Tools. Da bin ich voll bei ihm, weil es Entscheidung über Geburtsprivileg stellt. Wenn schon Schubladen, dann selbstgewählte.
Und die Trailblazer kommen dabei auch auf ihre Kosten. Sie dürfen sich rühmen, das Land für die Residents ersiedelt zu haben. Was Vannevar Bush dazu sagen würde?