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Dass neue Medien unser Gehirn verändern, ist weitgehend unbestritten. Offen ist die Frage, ob das für den Menschen vor- oder nachteilig  ist. [Erschienen im WIENER 347 /Juli 2010]

Junge Menschen haben dicke Daumen. Nein, nicht sichtbar, aber die Repräsentanz des Daumens im Gehirn ist bei Jugendlichen deutlich stärker ausgeprägt als bei den vorhergehenden Generationen. Sie brauchen ihn ja auch öfters, denn sie tippen damit, wie jüngst ein amerikanisches Mädchen, bis zu 14.528 SMS im Monat. Die Folge ist nicht nur eine horrende Telefonrechnung, sondern auch eine Veränderung der Gehirnstrukturen. Der Kortex folgt dem Gebote Darwins und passt sich den Umweltanforderungen an: Es entstehen dichtere und auch immer zuverlässigere Vernetzungen, die schnelle Daumenbewegungen zulassen.

Jede neue Technik verändert also den Menschen. Oder richtiger: Unser Umgang mit Technik verändert uns, denn Technik selber – das sei gleich zu Beginn allen Verschwörungstheoretikern ins Stammbuch geschrieben – kann nichts mit dem Menschen anstellen, wozu dieser nicht explizit einlädt. Ohne unseren Willen, ohne gesellschaftlichen Bedarf, vermag Technik sich nicht durchzusetzen. Wo sie sich aber durchsetzt, schreibt sie sich tief in unsere cerebralen Steuerungszentren. Wir sind umgeben von Technik, allen voran von technisch gestützten Medien, die sich einzig und allein durch unseren Bedarf etabliert haben. Richtig, der Mensch ist als Gottes Ebenbild konzipiert worden, de facto ist er aber ein schauerliches Mängelwesen. Er bedarf der Medien – insbesondere des Mediums Sprache – um sich aus seiner Hilflosigkeit befreien zu können. Unser Gedächtnis ist kurz, aber das Medium Schrift verlängert es über Jahrhunderte hinaus. Unsere Stimmen sind leise. Sie können nicht bis ans andere Ende der Welt grollen, wie jener Gott, dem wir angeblich ähneln. Zwecks Kompensation haben wir das Telefon erfunden. Auch unsere Augen blicken nicht bis Afghanistan, aber das Fernsehen überwindet die Distanz für uns.

Schon Sigmund Freud war fasziniert von diesem Gedanken: unsere technischen Errungenschaften sah er als „Prothesen“, als Erweiterung unserer sensorischen und motorischen Möglichkeiten. Wir sind tatsächlich nicht als Gottes Ebenbild auf die Welt gekommen, nähern uns aber diesem (selbstgesteckten?) Ideal durch Hilfsmittel an. „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden“, schreibt Freud, „recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.“

Das hat etwas ungemein Prophetisches. Sieht man sich den Kulturkampf an, der heute zwischen Digital Natives und Internetskeptikern tobt, so meint man, Freud hätte in der Berggasse eine Kristallkugel stehen gehabt. Tatsächlich machen uns die Prothesen, so großartig und selbstgewählt sie auch sein mögen, viel zu schaffen. Spürbar wird vor allem eines: Wir stehen vor dem vielleicht letzten, zumindest aber dem bislang umfassendsten Schritt in Richtung Prothesengottheit. Der menschliche Cortex hat das begriffen. Er passt sich an.

Veränderungen sind jedoch zweischneidig: Sie erfüllen Fraktion A mit manischer Zukunfts-Euphorie und Fraktion B mit panischer Zukunfts-Angst. Frank Schirrmacher (Buchtipp 1) lässt sich nur ungern der Fraktion B zuzählen (das wäre auch ungerecht); seine Angst artikuliert er aber deutlich: „Bei technischen Entwicklungen ist es immer so, dass man spürt, was man gewonnen hat, nicht was man verloren hat.“

High-Speed-Informationstechnologien zeichnen für eine Reihe herber Verluste verantwortlich: Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeitsspanne, Gedächtnis, Wahrnehmung der eigenen Körperempfindungen (wie z.B. Durst oder Hunger) – das alles ist belegbar und durch Studien hinlänglich erforscht. Dazu kommen noch ideelle Konzepte, kulturabhängig und nicht so leicht greifbar: Privatsphäre, „G’spür“ für sensible Daten, Trennung von Arbeit und Freizeit. Oder – und hier liegt Schirrmachers Hauptsorge – Urteilsvermögen und Bauchgefühl. Wir sind, so meint er, in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft, ohne jedoch zu wissen, ob das, was uns in derartige Anspannung versetzt, nun wichtig ist oder nicht. Durch die überbordende Informationsflut hätten wir den Instinkt verloren, zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen zu unterscheiden.

Oder haben wir ihn eher delegiert als verloren? Neue Medien, so die Gegenthese, dienen der Auslagerung. Seit Anbeginn seiner Entwicklung ist der Mensch bestrebt, Gehirntätigkeit auszulagern: durch Sprache, durch Schrift, durch Computer. Auslagerung schafft Raum für Kreativität, fördert Begabungen, die andernfalls zugemüllt wären. Eine neue Art von Intelligenz entsteht. Eine kollaborative, vernetzte, wie sie etwa im Vorzeigebeispiel Wikipedia zur Entfaltung kommt. „Die alten kognitive Fähigkeiten, die wir für persönlich und subjektiv halten, werden kollektiv und objektiv“, argumentiert Frank Hartmann (Buchtipp 2). Erst damit, so seine Folgerung, beginnt der Mensch sein Potential auszuschöpfen: „Wir sind mittendrin im Projekt der Menschwerdung.“ Es mag also sein, dass unsere durchaus realen Anpassungsschmerzen, nicht dem Todeskampf unseres Gehirns entspringen, sondern seinen Geburtswehen…

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