Wir nennen es Augmented Reality – erweiterte Wirklichkeit. Die High-Tech-Version von „Ich seh, ich seh, was Du nicht siehst“ gilt als DAS Technik-Thema des Jahres 2010. [Erschienen im WIENER Nr. 343 / März 2010]
Es war meist der kleine pickelige Streber mit den unmodischen Hemden, der die Details wusste: Dass die Kärntner Straße 1257 das erste Mal urkundlich erwähnt wurde, dass der Kahlenberg eine Höhe von 484 Metern und ein Big Mac 494,94 Kilokalorien hat. Wir anderen waren genervt und fasziniert gleichermaßen. Irgendwo zwischen „Gusch Bua!“-Brüllen und andächtigem Schweigen hinsichtlich der Menge angehäuften Halbwissens. Kurz: Genau jenes ambivalente Gefühl, das einen überkommt, wenn man den Augmented Reality (AR) Browser anwirft und die Welt durchs Handy betrachtet.
Die ersten Schritte in die erweiterte oder – will man den AR-Evangelisten glauben – „verbesserte“ Welt faszinieren. Wo ist im Umkreis von 1 km die nächste Pizzeria, wo die nächste Tankstelle, wo kann ich Brennspiritus kaufen? Ein Blick durch das Handy genügt und die Welt um mich wird mit einem Koordinatennetz überzogen. Kleine Stecknadeln markieren relevante Punkte – jeder, der schon mal ein Strategiespiel in der Hand hatte, weiß wie so etwas aussieht.
Aber es wird besser als das Strategiespiel: Klicke ich die einzelnen Punkte an, liefert mir der AR Browser jede benötigte Zusatzinformation: Öffnungszeiten der Pizzeria, exakte Adresse der Tankstellen, die chemische Formel für meinen Brennspiritus. Cool. Ersteres kann ich tatsächlich brauchen, mit letzterem bei der nächsten Party punkten…
„Around me“ heißt das virtuelle Feld, das hier betreten wird. Und genau das ist es auch: Mittels GPS und Kompass wird mein Standort errechnet, mit einer Datenbank verknüpft und mir in meinem Kamerabild angezeigt – das Tor zu einer beschilderten, analysierten, wissensdurchfluteten Welt. Wo hab ich gestern mein Auto abgestellt? Die passende AR Applikation zeigt es mir.
AR-Eventführer helfen mir, das nächste Konzert im Umkreis zu verorten. Und die nette Erweiterung „Tweeps Around“ weist mich darauf hin, wer in meiner Nähe gerade twittert, z.B. der junge Mann dort drüben, der per Twitter den Verlust seines Feuerzeugs beklagt. Da kann ich gern aushelfen…
„Das sind aber nur ganz simple Basis-Anwendungen“, sagt Fachmann Robert Harm (siehe Interview), „Der Trend geht weg von diesen rein statischen Nutzungen und hin zu mobiler Interaktivität.“ Was es dazu vermehrt braucht, sind Entwickler, die kreativen virtuellen Content schaffen, der auf der vorhandenen Umgebung aufsetzt, sie aber ein bisschen „verbessert“. Klassisches Beispiel: Man geht an einer Baustelle vorbei und braucht nur einen Blick ins Handy zu werfen, um anstelle des Baugerüsts das fertige Architektenmodell zu sehen. Die Firma Layar bietet das bereits an: virtuelle 3D Modelle, die der Wirklichkeit übergestülpt werden.
Stolz ist man bei Layar auch darauf, die Beatles wieder mit Abbey Road vereint zu haben. Eine „Augmented City Tour“ durch London führt Fans der Fab Four an alle Stationen des Beatles’schen Lebens. Durchs Handy betrachtet, sieht man dabei tatsächlich Ringo, Paul, John und George über den berühmten Zebrastreifen spazieren und kann sich selber mit ihnen fotografieren. Klingt wie Spielerei, ist aber derzeit absoluter State-of-the-Art in Sachen AR, weil hier nicht nur mit 3D-Objekten und Informationsschichten gearbeitet wird, sondern auch mit sogenannten „triggered actions“: Erst die Bewegungen des Nutzers lösen bestimmte Abläufe aus, d.h. die nächste Station der Beatles-Tour wird erst freigeschaltet, sobald die aktuelle absolviert ist.
Kein Wunder, dass sich die Technik für Schnitzeljagden anbietet: AR Games, die „Treasure Hunts“ und Quizspiele quer durch die Stadt inszenieren, boomen und lassen klassisches Geocaching ganz schön alt aussehen. „Triggern“ (also auslösen) lassen sich dabei alle Arten von Aktionen: Videos, die automatisch am Handy abgespielt werden, sobald ich einen bestimmten Punkt passiere. Die Marseillaise, die ertönt, wenn ich mich in einem Radius von 10 Metern dem Eifelturm nähere. Erfundene Beispiele? Nein, natürlich längst umgesetzt. Stehe ich vor dem Berliner Reichstag, zeigt mir mein Handy den Standort in historischen Ansichten. Und im Kolosseum in Rom brüllen wieder die Löwen.
Sicherlich, das klingt alles nach technophiler Spinnerei. Das Konzept dahinter ist aber ein mächtiges: Jede Art von Information liegt auf der Straße, zugänglich für jedermann. Die Realität, die dadurch entsteht, mag somit tatsächlich eine „verbesserte“ sein. Abwarten.
Zitat:
“All aspects of society will be affected by this: the Government, the arts, social justice, journalism.“ – Mark Wright, Senior Researcher, University of Edinburgh